Frank Nöthlich
Unsere Welt – Das Morgen schon im Heute. Mühlhäuser Briefe 2010 – 2013

Zum Projekt

Unsere Welt – Das Morgen schon im Heute?

 

 Es ist heute durchaus möglich überall in der
Welt menschenwürdige Verhältnisse gestalten zu können. Die wissenschaftlich–technische
Revolution gekennzeichnet durch rasche Entwicklung von Hochtechnologien und
deren massenhaften Einsatz mit der Folge eines tiefgreifenden Wandels in den
Wirtschaftsstrukturen konstituiert in unserer Gegenwart eine Umbruchsituation.
In den Kernprozessen der Wirtschaft bildet sich ein neuer Produktivkrafttypus
heraus, der vor allem durch die komplexe industrielle Nutzung von Naturgesetzen
in Gestalt der Mikroelektronik, der Informatik, der Biotechnologien, durch den
Einsatz der Lasertechnik sowie neuer Werk- und Wirkstoffe und vielem mehr
geprägt ist. Schrittweise findet eine zeitliche und räumliche Entkopplung von
Mensch und Maschine statt. Solche wesentlichen Veränderungen im
Produktionsprozess und die Steigerung der Produktivität des gesamten, globalen
Wirtschaftsgeschehens eröffnen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für die
Persönlichkeitsentfaltung, für die Überwindung von Unterentwicklung, für
wahrhaftig humanistischem Verhalten entsprechende, zwischenmenschliche
Verhältnisse.

 Aber es hängt vom Charakter der Gesellschafts-
und dabei im Besonderen der Produktionsverhältnisse ab ob diese Chance genutzt
wird oder in ihr Gegenteil umschlägt. Da in unserer Gegenwart an erster Stelle
das Streben nach geldwertem Vorteil und nur als Mittel zu diesem Zweck die
Nützlichkeit des zu Leistenden die hauptsächliche Motivation aller
wirtschaftlichen Unternehmungen ist, werden gerade an der Schwelle zu einer
glücklichen Wende die neuen Produktivkräfte vielfach zu Destruktivkräften
pervertiert. Was einerseits zu Wohlstand und anspruchsvoller Lebensqualität
führen kann, bringt andererseits Not und Zerstörung mit sich. Die neuen
Produktivkräfte eskalieren zu erdumspannenden Tötungsmaschinen, gebannt in den
Profitmechanismus werden sie als Rationalisierungstechnologien par excellence
genutzt, führen zu chronischer Massenarbeitslosigkeit, zu deren Druck auf die
Beschäftigten, zur Ausgrenzung ganzer Teile der Bevölkerung aus der
Arbeitssphäre auf Lebenszeit, zum Verlust der Möglichkeiten der
Selbstverwirklichung in der Arbeit für Dutzende Millionen, zu perfektionierten
Kontrollapparaten und zur gegenseitigen Manipulierung mittels neuer
elektronischer Medien.

 Besonders eine Frage steht vor allen Völkern,
Staaten und Wirtschaftskonglomeraten, nämlich: Wie können die
gesellschaftlichen Verhältnisse so gestaltet werden, dass der Progress der
Produktivkräfte sozialen Fortschritt für die Menschen und stabile ökologische
Gleichgewichte für unseren Heimatplaneten bringen.

 Über unsere Bestimmung gilt es also
festzustellen:

Gleichgültig
ob sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft evolutionär behäbig oder
sprunghaft revolutionär vollzieht, sie ist immer dann fortschrittlich wenn sich
jeder Einzelne im Rahmen der gegeben Lebensverhältnisse als selbstbewusst
konkrete Persönlichkeit emanzipieren kann und wenn sich eben diese Verhältnisse
in Richtung einer Gesellschaft bewegen in der durch eigenwilliges Wirken der
Einzelnen das dauerhafte Bewahren des Mensch-Seins ermöglicht wird.

 Wir Menschen können uns entscheiden ob wir
bewahrend oder beendend wirken und entsprechend dieser grundlegenden
moralischen Orientierung unser Leben sinnvoll oder sinnlos gestalten wollen.

Durch
unser menschliches Selbstbewusstsein sind wir in der Lage unser eigenes Ich
einer umfassenderen Bestimmung zuzuordnen und daraus sinnvolles Handeln für uns
selbst herzuleiten.  Wagen wir die
Menschlichkeit!!!
 


An alle aus der Geschichte Lernenden

  

Vierter
Brief – An alle aus der Geschichte Lernenden

 

Mühlhausen, den 02.12.2011

Leben ist ein Vorgang,

 

 der nur
gegenwärtig geschieht. Das gestern Gelebte kann heute noch sein, aber nicht so,
wie es war.

Geschichte ist die in der Vergangenheit passierte,
gegenwärtig wirkende und die Zukunft bedingende Lebenstätigkeit der Menschen.

 Im
Spannungsfeld der Emanzipation und der Integration der Menschheit aus ihrer und
in ihre natürliche Wirklichkeit sowie jedes Einzelnen von seiner und in seine
mitmenschliche Gemeinschaft entspringt und entwickelt sich das Mensch-Sein.

 

 Erstmals 1914 ging der von Thomas Hobbes so
beschriebene permanente “Krieg aller gegen alle”, wie ihn die Menschheit schon
viel zu lange kennt und führt, in einen heißen Weltbrand, den ersten global
kapitalistisch motivierten Weltkrieg, über. Es folgte, im September 1939
beginnend, gleichermaßen verursacht und weitaus schlimmer die manifeste
Menschlichkeit verheerend, der Zweite.

 Das bis heute nicht vollständig bezüglich
seiner wahren Hintergründe geklärte Attentat einer Terroristengruppe auf den
österreichischen Thronfolger und seine Frau veranlasste die damals Mächtigen
den ersten Weltkrieg zu beginnen.

 Unverhohlen ausgeübter faschistischer
Staatsterror gebot den fingiert als von polnischen Tätern verübten, blutigen
Überfall auf einen deutschen Radiosender, um einen Anlass zum Eintritt in den
Zweiten Weltkrieg zu erheischen.

 Im September 2001 erfolgte ein terroristischer
Anschlag auf das New Yorker World Trade Center sowie gleichzeitig auf das
Washingtoner Pentagon, das Verteidigungsministerium der USA, und nur
vermutlich, da glücklicherweise verfehlt, auch auf das Weiße Haus, den Amtssitz
des US-amerikanischen Präsidenten. Als Veranlasser der Anschläge wird sehr
unscharf umschrieben und pauschal angegeben der sogenannte „Weltterrorismus“
benannt.  Die Antwort der
Militärgewaltigen auf die Anschläge in den USA ist eine Allianz überwiegend
demokratisch geprägter Staaten gegen die Terroristen und gegen Staaten, die
diese tatsächlich oder auch mutmaßlich unterstützen, besonders sogenannte
“Schurkenstaaten”.

 

„Gewissenlosigkeit ist nicht der Mangel des Gewissens,
sondern der Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren“, redet uns Immanuel
Kant in jenes, denn leider verhalten sich Menschen allzu oft so, wie uns Blaise
Pascal zu sagen weiß:

 „Niemals tut man
so vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.“

 

 Die Hässlichkeit so mancher menschlichen
Unternehmung und Tat kann durchaus vergessen machen, dass eigentlich die
Tatsache, dass jeder Mensch geliebt werden und Liebe geben will, sein
menschliches Wesen und Wirken bestimmt, dass die Menschen aus ihrer Liebe zum
Leben heraus zu Schöpfertum bei der Gestaltung ihres endlichen Lebens motiviert
sind, sie sich so überhaupt erst als menschliche Wesen aus dem Tierreich
erheben konnten und so auch nur als solche weiter existieren können.

 Nicht selten führten und führen sehnsüchtig
oder ängstlich, aus Unwissenheit oder Verblendung heraus, einseitig angestellte
Betrachtungen und Bewertungen zu, später und im Nachhinein gesehen, schier
unglaublichen Vermutungen und daraus resultierendem Irrglauben und eben solchem
unglaublichen Tätig sein der Menschen.

 So konnte aus dem Irrglauben an ihr
„Herrenmenschentum“ die Heimat- und Nächstenliebe der Deutschen in zwei Weltkriegen
zu schrecklichen Grausamkeiten missbraucht werden.

 Aus der Hoffnungslosigkeit heraus, in ihrem
Leben nicht glücklich werden, ihr konkretes Dasein so nicht mehr ertragen zu
können, glauben viele Anhänger des Islam der Gegenwart, ihrem Leben durch die
Grausamkeit eines Selbstmordattentats einen Sinn geben zu können.

 Nicht selten werden wissenschaftliche
Erkenntnisse und technische Errungenschaften, die die Unabhängigkeit des
Menschen von den Naturgesetzen durch deren sinnvolles Anwenden zum
nutzbringenden Beherrschen des Naturgeschehens ermöglichen können, zu
zerstörerischem Beenden missbraucht. 

 So mussten nach den Atombombenabwürfen auf
Hiroshima und Nagasaki viele Wissenschaftler bitter zur Kenntnis nehmen, dass
sie dem Irrglauben erlegen waren, die Gesetzlichkeit und Verfassungen
bürgerlicher Demokratien würden reichen, solch einen entsetzlichen Missbrauch
ihrer Erkenntnisse und ihres Wirkens auszuschließen. Eigentlich wollten sie dem
Leben dienen, indem sie die Möglichkeit schufen, menschenverachtenden Regimes
bedrohlich entgegen treten zu können.

 Durch ständig neu gewonnene Möglichkeiten, die
natürliche Auslese beeinflussen und verändern zu können und das dadurch
mögliche Überschreiten der ökologischen Grenzen ihrer Population, läuft die
Spezies Mensch  im Gegensatz zu allen
anderen Lebewesen Gefahr, sich selbst in ihrer Existenz zu gefährden.

 Da die Menschen als biotische Wesen gezwungen
sind, ihre sie in der Stammesentwicklung bedingende natürliche Umwelt zu
bearbeiten und zu verändern, verursacht ihre sich ständig vergrößernde
Population besonders durch Methoden der modernen Wirtschaft und Landwirtschaft
die zumindest teilweise nicht mehr rückgängig zu machende Zerstörung ihres
natürlichen Lebensraumes.

 Die sowohl aus dem Überlebenswillen der
einzelnen, als auch aus den Notwendigkeiten der Arterhaltung aller Menschen
entspringende egozentrische Sichtweise im Ausnutzen der Naturgesetze zur
individuellen Selbstbefriedigung verursacht 
die Verwüstung vieler Regionen der Erde.

 Die Menschen konnten sich als  sozial zusammenwirkende Lebewesen im ständigen
Wechselspiel zwischen der Wirkung ihrer sich allmählich und fortwährend
verändernden Erbanlagen und der daran anschließenden, natürlichen Auslese als
bewusst bewirkende Wesen aus dem Tierreich erheben.

 Ihre biotischen, also ererbten Anlagen bringen
jedoch auch den Selbsterhaltungstrieb und dadurch  Konkurrenzverhalten der menschlichen
Individuen untereinander mit sich. Daraus folgt besonders in den gegenwärtig
hochentwickelten Gesellschaften der Wettlauf der Menschen mit sich selbst,
durch den sie einerseits ihr Wissen und Können vorwiegend im Erschließen
technologischer Möglichkeiten erweitern, durch den sie aber andererseits
lebensnotwendige soziale Beziehungen zerstören, moralische Bewertungen ihres
Wirkens unterlassen und psychische Befindlichkeiten nicht berücksichtigen.

 Bedingt durch den immer stärkeren Drang der
Menschen, im Wettlauf mit sich selbst gewissermaßen über die eigenen Schatten
springen zu wollen, verschärfen sich die Widersprüche zwischen den
Generationen.

 Konflikte, zwischen konservierenden und
revolutionierenden Bestrebungen, um lebensnotwendige, aber in wachsendem Maße
auch scheinbare, teilweise abartige Bedürfnisse befriedigen zu können, werden
eher mittels aggressiver Verhaltensweisen als durch die vernünftige Suche nach
Alternativen, die alle Seiten zufriedenstellen könnten, ausgetragen.

 Die gegenwärtige Weltgesellschaft tritt mehr
und mehr zu manipulierten Interessengruppen zusammengenötigt in Erscheinung,
einerseits nach egoistisch–wollüstigem Vergnügen suchend beziehungsweise
andererseits nach Vernichtung und Zerstörung von Hab und Gut sowie des Lebens
andersartiger strebend.

 Besonders gefährlich wird diese Entwicklung
dadurch, dass den Menschen heute in wahnsinnigen Größenordnungen
Massenvernichtungswaffen zur Verfügung stehen beziehungsweise, dass einzelne in
der Lage sind, mit geringem Aufwand Errungenschaften des
wissenschaftlich–technischen Fortschritts zur Vernichtung anderer, oft auch in
Verblendung selbstmörderisch, benutzen können.

 Die ungeheure Dynamik im Prozess des Wettlaufs
der Menschen mit sich selbst verursacht das Abreißen der Traditionen innerhalb
historisch gewachsener Gemeinwesen und immer aggressivere Auseinandersetzungen
zwischen altehrwürdigen aber oft sehr unterschiedlichen Gestaltungsweisen des
gesellschaftlichen Zusammenlebens.

 Die Schere zwischen den überwiegend am
Erhalten des Althergebrachten interessierten Älteren und den eher zu
umwälzenden Veränderungen bereiten Jüngeren öffnet sich immer weiter, der Hass
zwischen Angehörigen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen wächst, die
Generationen und Anhänger der verschiedensten Traditionslinien stehen sich mehr
und mehr konträr gegenüber.

 Die ständig größer werdende, sich alltäglich
über die Menschen ergießende Informationsflut führt zu zunehmender Indoktrinierbarkeit
und geistiger Abhängigkeit, die Menschen fühlen sich so den sich
verselbstständigenden gesellschaftlichen Gewalten immer hilfloser ausgesetzt
und verfallen mehr und mehr in untertänige Lethargie.

 Das technologische Wissen und Können der
Menschen wird in steigendem Maße zu einem gigantischen Potenzial für ihre
eigene Vernichtung und der des Lebensraums Erde.

 

 Wenn menschliches Wirken sich in so
beschriebenen Verhaltensweisen äußert, ist es sicherlich angebracht, von
Todsünden zu sprechen. Zu bedenken ist aber immerhin, dass die in
eigentümlicher Weise nur den Menschen mögliche Art und Weise, tätig zu sein,
die Menschwerdung, also das Heraustreten des Menschen aus dem Tierreich und das
Gestalten der verschiedensten menschlichen Kulturen, ermöglichte. 

 Der wesentliche Unterschied zwischen
tugendhaftem oder sündigem Verhalten besteht in der Richtung, in die sich die
Menschen mittels ihres Tätigseins bewegen, ob sie so ihre Wirklichkeit bewahren
können oder beenden werden.

 Immer wieder stellt sich darum die Frage, ob
die Menschen solchen selbstzerstörerischen Verhaltensweisen, die ihnen
gewissermaßen genetisch von der Evolution in die Wiege gelegt wurden, mit
bewusstem und sinnvollem Handeln begegnen können, wodurch sie ihr Leben
lebenswert gestalten und die Wirklichkeit ihres Universums bewahren können.

 

 Worin liegen also die zum Überleben
notwendigen Tugenden des menschlichen Verhaltens?

Die
Menschen erwerben Wissen und Fähigkeiten, wodurch sie ihr Leben über natürlich
gegebene biotische Grenzen hinaus verlängern und es sinn- und freudvoll
gestalten können.

 Durch menschliches Wirken kann der Lebensraum
Erde und darüber hinaus auch der Kosmos als solcher zum Nutzen der Menschen
erschlossen und vor dem naturgesetzmäßigen Untergang bewahrt werden.

 Neugier, Spieltrieb und lustbetontes Verlangen
sind urwüchsige Motivationen der Menschen zum Handeln, so erlangen sie ihr
Selbstbewusstsein. Zunächst werden ihnen Angst, Hunger und Hilflosigkeit
bewusst, daraus erwachsen oft Hass, Gier und Gewalttätigkeit aber auch
Sehnsucht, Appetit und Hilfsbereitschaft. Überwiegend sind es die
Lebensumstände, die maßgeblich die gefühlsmäßigen Befindlichkeiten der Menschen
bestimmen.

 Selbstzerstörerisches Gegeneinander der
Menschen im Kampf ums Überleben kann, historisch und gegenwärtig nachweisbar,
durch bewusstes Anwenden erworbener Erkenntnisse und Befähigungen in
behagliches Für- und Miteinander im Wettbewerb um nutz- und gewinnbringende
Leistungen geleitet werden.

 Im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem natürlichen
Weltganzen, können die Menschen Notwendigkeiten und Möglichkeiten der
Veränderung beziehungsweise der Bewahrung ihrer Anatomie und Physiologie
erkennen und sie bewirken.

 Konflikte und deren Lösung zwischen den
Generationen und Anhängern traditionell andersartiger Lebensweisen führen
überwiegend zu nützlichen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben der
Menschen.

 Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit und
Nützlichkeit und so gewonnenem Informiert-Sein gelangen die Menschen zu
Sittlichkeit und Zufriedenheit, zu bewusst bewirkender Menschlichkeit.

 Technologisches, wissenschaftliches und
künstlerisches Wissen und Können ermöglichen es den Menschen, die Welt immer
besser zu begreifen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und die Wirklichkeit zu
bewahren und führen nicht ausschließlich zur Produktion von Massenvernichtungswaffen
und zur gemeinschaftlichen oder individuellen Selbstzerstörung.

 Das alles sind Lebenserfahrungen von uns
allen, den Menschen. Jedem von uns steht es frei, sich für tugendhaft
bewahrendes oder sündig zerstörerisches Handeln zu entscheiden.

 

Brief an alle, die Grund haben aufzubegehren

 

Mühlhäuser Brief, August 2012

 

Brief
an alle, die Grund haben aufzubegehren

 

 Selbstbewusst und eindringlich fragt und
antwortet Bertold Brecht in seinem Gedicht GEGENLIED VON DER FREUNDLICHKEIT DER
WELT nach den Befindlichkeiten der gemeinen Menschen: „Soll das heißen, dass
wir uns bescheiden und, so ist es und so bleibt es sagen sollen? Und, die
Becher sehend, lieber Dürste leidend nach den leeren greifen, nicht den
vollen?“ und weiter, „soll das heißen, das wir draußen bleiben ungeladen in der
Kälte sitzen müssen weil da große Herrn geruhn, uns vorzuschreiben was da
zukommt uns an Leiden und Genüssen“, um schließlich festzustellen, „besser
scheint’s uns doch, aufzubegehren und auf keine kleinste Freude zu verzichten
und die Leidenstifter kräftig abzuwehren und die Welt uns endlich häuslich
einzurichten!” Um uns häuslich einrichten zu können, müssen wir Menschen
politisch denken und handeln. Jeder Vorgang sowohl in der Natur als auch in der
menschlichen Gesellschaft und im Denken geschieht aus Widersprüchlichkeit.
Diese gilt es herauszufinden, um deren Lösung im Sinne des Verbesserns,
Erhebens und Vervollkommnens bewusst stimulieren zu können.

 „Verbrennt mich! Nach meinem ganzen Leben und
nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine
Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in
die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.
Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selber wird unauslöschlich sein
wie eure Schmach“, schrieb Oskar Graf am 12. Mai 1933 in der Wiener 
Arbeiter-Zeitung, da seine Bücher nicht
der 
Bücherverbrennung durch die Nazis zum Opfer fielen. In seiner Autobiographie schreibt Oskar Graf,
Sohn eines Bäckermeisters vom Starnberger See und späterer Arbeiterdichter,
über Moral: „Es war ja alles Unsinn, was die Dichter und Philosophen
daherredeten von Moral, von Ethik und Charakterfestigkeit, vom Idealismus und
weiß Gott was für guten Eigenschaften. Diese Eigenschaften waren letzten Endes
alle untergeordnet – das Geld machte sie oder löschte sie aus.“

 Was den Menschen
etwas Wert ist, hängt im Wesentlichen von den jeweiligen sozialen
Verhältnissen, in denen sie leben, ab. Jede Zeit und jede Gesellschaft ideologisiert
sich in ihren sämtlichen geistigen Offenbarungsformen, in ihrer Philosophie, in
ihrer Wissenschaft, in ihren Rechtssystemen, in ihrer Literatur, ihrer Kunst,
ihren Lebensregeln. Das geschieht, indem sie bestimmte Vorstellungen, Regeln
und Gesetze ihrer Werte und Visionen aufstellt und dadurch etwas konstruiert,
das zum Ideal erhoben wird. Sämtliche Ideologien einer Zeit sind nichts anderes
als die besonderen Lebensinteressen der Haupttendenz eines Zeitalters, sie
können großartig und kühn sein, aber auch erbärmlich und abstoßend.

 Mahatma Gandhi
nahm die Menschlichkeit beim Wort und offenbarte die Macht der
Gewaltlosigkeit.  Ende 1931, nach langen
Jahren des passiven Widerstandes, war das großmächtige britische Imperium
bereit, den Gewaltlosen anzuhören. Gandhi fuhr nach England, er reiste im
selbstgewebten Sarong, barhaupt und mit einem Bündel, aber er vertrat mehr als
300 Millionen Inder. Der Pass-Beamte fragte: „Beruf?“: „Armer Bettler!“,
„Vermögen?“, „Sechs weiße Hosen, zehn Liter Ziegenmilch und der Weltruhm, der
nichts Wert ist.“ – Gandhi war als Sohn einer kastenstolzen Familie geboren
worden. Er studierte in London und wurde Rechtsanwalt. Vor dem ersten Weltkrieg
vertrat er die Interessen seiner Landsleute in Südafrika, seit 1918 arbeitete
er in Indiens Nationalbewegung für Unabhängigkeit des Landes. Er wollte die
Völkerschaften Indiens zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenführen.
Pandit Nehru, der Führer der Hindus, war sein Jünger, ebenso Ali Jinnah, der
Vertreter der Moslems. – Das Geheimnis Ghandis war Selbstlosigkeit, seine
Frömmigkeit und umfassende Liebe zu allem Leben. Er sagte: „Ich billige keine
böse Tat, ganz gleich für welchen Zweck sie auch geschehe!“ Oder: „Man Muss
frei sein von der Furcht vor den Fürsten, vor dem Volk, vor den Angehörigen,
vor wilden Menschen und Tieren, vor dem Tode!“ – Er kämpfte, indem er
Bürgerkrieg, Aufruhr, Gewalttat der anderen, Rassenhass und Kastenzwist durch
Fasten büßte und fastend die Gegner zum Frieden zwang. Er wollte keine Gewalt,
er wünschte Indien frei, doch der Weg zur Freiheit sollte nicht über die Gräber
gefallener Helden führen. Seine Kampfmittel waren Boykott englischer Waren und
ziviler Ungehorsam. Er siegte, weil es kein Mittel gab, Gewaltlosigkeit mit
Gewalt zu unterdrücken. 1948 Schoss ihn ein fanatischer Hindu nieder.

 Zum Lebensgenuss
befähigende, körperliche und seelische Gesundheit zu besitzen, sich emotional
und vom Verstand inspirierte Geistigkeit erarbeiten und so in wohlwollendem
Miteinander leben zu können, sind hohe ethische Werte des Mensch-Seins. So sind
wir Menschen motiviert, Wahrhaftiges und Wirkliches begreifen, alles unser
Dasein Bedingende befriedigen und das offenbare Sein in seiner Schönheit
bewahren zu wollen.

ISBN

ISBN-10: 3842242972
ISBN-13: 978-3842242975